Der Maskenmacher

von Christopher Abendroth (www.abendwelten.de)


Wie ein Buschfeuer trieb die Unrast Pierre Renard vor sich her, trieb ihn immer weiter. Seine Absätze pochten hart auf das feuchte Kopfsteinpflaster und hallten durch die nachtblinden Straßen von Paris. Im Takt seiner Schritte hämmerten seine Gedanken auf ihn ein und feuerten ihn an, noch rascher zu gehen. Doch dem, wovor er weglief, konnte er nicht entfliehen.

Morgen kam der entscheidende Tag. Wohl und Wehe seiner Familie hingen davon ab, dass Pierre den Vertrag zum Abschluss brachte. Der Krieg hatte alle Geschäftskontakte im Römischen Reich deutscher Nation dahingerafft und das Handelshaus Renard an den Rand des Ruins getrieben. Sein Vater war daran zerbrochen und in die Fänge einer schweren Krankheit geraten. Nun lag die Last der Verhandlung auf Pierres Schultern und er wusste, dass er scheitern würde.

"Ein paar Deniers, Sieur?", fragte eine verschlafene Stimme am Boden. Ohne langes Federlesen gab Pierre dem Bettler drei Sous. Das ungläubige Staunen des armen Teufels über das viele Geld brachte für einige Herzschläge Freude in seine trostlose Grübelei. Bald jedoch holten ihn seine Sorgen wieder ein. Was würde Julie sagen, wenn seine Familie den Bankrott erlitt? Dieses bezaubernde Geschöpf nannte zu seinem Leidwesen einen Vizegrafen ihren Vater und der missbilligte bereits jetzt, dass sie Augen für den mittellosen Kaufmannssohn hatte. Ach könnte ich doch morgen nur Erfolg haben! Dann ... Auf der Stelle verbot er sich diesen Gedanken. Er war selbstaufrichtig genug, um zu wissen, dass er durchaus ein sanftmütiger und verständnisvoller Mann sein mochte, indessen machten diese Qualitäten keinen erfolgreichen Kaufmann aus. Es fehlte ihm der nötige Biss.

In einer beengte Gasse auf der Île Saint-Louis weckte ein wunderliches Geschäft Pierres Neugier. Zwar quetschte sich das Haus schmal und unscheinbar zwischen seine Nachbarn, jedoch zog das Schaufenster seine Blicke auf sich. Nicht nur, dass es zu dieser unchristlichen Stunde von Lichtern erhellt wurde: Darin lagen geschickt ausstaffiert allerlei Masken unterschiedlichster Machart. Lachende und weinende Gesichter glotzten mit leeren Augen durch das Glas hinaus in die Dunkelheit, aber viel mehr trugen rätselhafte und mystisch anmutende Mimiken.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Pierre, dass die Ladentür aufschwang. In die Gasse trat ein unauffälliger, wenn auch wohl betuchter Mann. Dichtauf folgte eine weinrot gewandete Gestalt, deren nachtschwarze Maske Antlitz und Augen verborgen hielt.

"Auf bald, Baron.", verabschiedete der Schwarzmaskierte seinen Kunden, bevor er sich Pierre zuwandte. "Dies ist keine gute Nacht, um sie auf der Straße zu verbringen. Kommt herein, kommt herein!"

Pierre, dem der Sinn durchaus nach ein wenig Ablenkung stand, folgte der imposanten Erscheinung ins Innere des Ladens. Derart üppige Farben hatte er in der Stadt seit Jahren nicht gesehen. Roter Samt bedeckte die Mauern vom Boden bis zur Decke. Masken über Masken hingen daran, wie bunte Sterne am Himmelszelt. Für alle nur denkbaren Gefühle schien es eine Maske zu geben: Liebe, Melancholie, Stolz und endlos viele mehr. Es handelte sich um nach venezianischem Vorbild gefertigte Halbmasken, filigran ausgearbeitet und bemalt.

"Wer war das?", fragte Pierre, die Wände abschreitend.

"Der Baron de Lodève? Ein Stammkunde. Er trägt die Maske der Bescheidenheit."

"Wie meint Ihr das?"

Der Maskierte deutete auf seinen Laden. "Ich bin der Maskenmacher, ich verkaufe Masken. Besondere Masken." Da Pierre nicht begriff, nahm er eine Maske vom Tisch vor sich. Mit einer flirrenden Bewegung tauschte er die schwarze gegen die neue aus. Pierre fand sich einem unmaskierten, charmanten Herren gegenüber, dem ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen lag und dessen Augen lebendig glänzten. "Wo ist die Maske, fragt Ihr Euch jetzt. Ich trage sie: die Maske des Händlers." Seine sonore Stimme zog Pierre in seinen Bann. "Ich lese in Eurem Gesicht, junger Kaufmann, dass Ihr Sorgen habt. Sorgen, für die ich eine Lösung habe. Was plagt Euch?"

"Morgen sucht uns ein renommierter Reeder aus Marseille auf, der einen Handelspartner in Paris unter Vertrag nehmen möchte, um hier seine Wahren auf den Markt zu bringen. Es ist ein lukratives Angebot, das unsere Familie schlagartig reich machen könnte." Er stockte, doch der freundschaftliche Blick des Händlers ermutigte ihn, auch den Rest auszusprechen. "Wenn ich scheitere, geht das Handelshaus Renard bankrott."

Der Maskenmacher kam zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern. "Versteht Ihr Euer Geschäft, Kaufmannssohn?"

"Das gewiss, aber es fehlt ..."

"... Euch an Selbstvertrauen." Ohne langes Suchen deutete der Maskenmacher auf eine Maske an der Wand, die stofflich gewordene Selbstsicherheit vermittelte. "Gepaart mit einer Prise Draufgängertum." Er hob sie behutsam vom Haken und setze sie auf. Plötzlich war die Maske des Händlers in seiner Hand nur noch ein Ding aus bemaltem Holz.

"Im nächsten Jahr werde ich Hoflieferant des Königs sein!", brüstete er sich und strahlte dabei derart kraftvolle Zuversicht aus, dass Pierre nicht daran zweifelte. Erneut flirrten die Masken und der Maskenmacher trug wieder die Maske des Händlers. In verlockendem Abstand hielt er Pierre die Maske des Erfolgs entgegen. "Nehmt Ihr sie?"

"Was soll sie kosten?"

Der Geschäftsmann lächelte nachsichtig. "Die erste Maske kostet niemals viel. Gebt mir, was Ihr bei Euch tragt."

Die erste Maske?, wunderte sich Pierre, griff dennoch frei von Zweifeln zu seinem Geldbeutel und gab ihn dem Maskenmacher. Ohne den Inhalt zu prüfen, packte dieser seine Kreation sorgsam in eine Schachtel.

"Bedenkt, die Masken sind magischer Natur. Ihr Zauber verfliegt nach vierundzwanzig Stunden. Nutzt sie weise."

Pierre, für den es nur den morgigen Tag zu bestehen galt, schien das unbedeutend. Er bedankte sich und kehrte leichten Herzens heim.

 

Immer noch trunken vom Erfolg dieses Tages hegte Pierre Renard nicht den Wunsch, Champagner anzurühren. Der Geschmack des Triumphs perlte zu süß auf seiner Zunge, um ihn zu verwässern. Der Reeder aus Marseille hatte ihm aus der Hand gefressen und obwohl die Konkurrenten bessere Konditionen anboten, hatte er dem Handelshaus Renard den Zuschlag gegeben. Die Energie und die Entschlossenheit, mit der Pierre das Ganze anpackte, hatten ihn schwer beeindruckt. Sie hatten ihn sogar derart imponiert, dass er den jungen Mann mit auf einen Spätsommerball mitgenommen hatte, auf dem sich selbst der Adel die Ehre gab.

Als Pierre in ihren Reihen dann den Vicomte de Châteaudun und seine Tochter Julie erblickte, erwuchs die gute Laune zu Übermut. Er trug noch die Maske des Erfolges, hatte seine besten Kleider am Leib und traute sich auf diese Weise alles zu. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, verbeugte sich angemessen vor dem Vizegrafen und sagte: "Ich habe heute einen Vertrag abgeschlossen, der den Namen Renard zu einem der vermögendsten von Paris machen wird. Es wäre mir eine Freude, das Glück dieses Tages durch einen Tanz mit Eurer Tochter zu besiegeln."

Statt des befürchteten herablassenden Blickes zuckte ein Mundwinkel des Vicomte wohlwollend. "Dreist, aber mit Schneid, der Kaufmann Renard." Er schaute zu seinem Kind hinüber. "Oder was sagst du, mein Engel?"

Julies Augen leuchteten derart, dass es schon beinahe Antwort genug sein mochte. "Ich sage, dass es mir eine Ehre wäre, Vater."

 

Julie wollte ihn wiedersehen! Sie wollte ihn tatsächlich wiedersehen! Wie beim Rosenkranz formte Pierres Geist immer wieder die selben Worte. Er hatte seiner Angebeteten das Versprechen gegeben, dass er sie treffen würde, sobald in ein, zwei Wochen seine Aufgabe in Paris erledigt war. Bis dahin galt es, die Waren aus Marseille bei Krämern und größeren Händlern zu etablieren. Pierre wusste, dass dies viele Meilen und harte Überzeugungsarbeit bedeutete, doch es würde den Namen Renard in alle Munde bringen und verhieß mehr Wohlstand, als die Familie je gesehen hatte.

Gerade, als er zur Dämmerungsstunde zum Haus seiner Eltern kam, knackte es hölzern und die Maske des Erfolges fiel in Stücke zersprungen von ihm ab. Schulterzuckend ließ er sie auf der Straße zurück.

Die Haustür hatte sich noch nicht richtig hinter ihm geschlossen, als bereits Pierres Vater erschien. In seinen teuersten Gehrock gehüllt lächelte er mit bedachtsamen Nicken. Seine Krankheit schien vergessen. "Sohn, du hast mich stolz gemacht. Ich hatte schon befürchtet, ich würde eine bettelarme Familie zurücklassen, wenn ich sterbe."

Clémence, seine jüngere Schwester, kam herbeigeeilt und umarmte ihn ungestüm. "Du hast ein wahres Wunder vollbracht, Brüderchen! Schau dir Vater an, er wirkt so gesund wie lange nicht!"

In ihren Armen jedoch keimten Zweifel auf. Mit einem Schlag hing so viel mehr von ihm ab, dabei war der Erfolg des vergangenen Tages ein gewaltiger Schwindel. Ohne die Maske ... Er seufzte tief und schob die Bedenken beiseite.

 

"Ich brauche neue Masken.", sagte Pierre mit fester Stimme. Seine Hand ruhte unter seinem Mantel auf einem prall gefüllten Geldbeutel.

Die schwarzen Löcher in der Ebenholzmaske des Maskenmachers glotzten ihn teilnahmslos an. "Freilich braucht Ihr die.", erwiderte er trocken. "Fast alle meine Kunden kommen wieder. Welcher Narr wünscht Ihr heute zu sein?"

"Pardon?"

Der Händler lachte seltsam misstönig auf. "Verzeiht mir bitte das Wortspiel. ‚Maskharat‘ stammt aus dem Arabischen. Es bedeutet so viel wie ‚Narr‘ und ist sonach der Namensgeber meiner Werke."

In Pierre blieb das ungute Gefühl zurück, dass der Maskenmacher nur eine Ausflucht suchte, ging dann aber zu seinem Anliegen über: "Der Reeder aus Marseille, mit dem ich verhandelt habe, hat bei mir Eindruck hinterlassen. Ihm war eine äußerst einnehmende Freundlichkeit zu eigen und er strahlte ... den Reiz der Fremde aus. Er war ein Mann von Welt, dem man nichts vormachen konnte."

Der Maskenmacher setzte die Maske des Händlers auf und war schlagartig wieder eine willkommene, gewinnende Präsenz. "Und Ihr, Pierre Renard, braucht eine vergleichbare Maske, um Eure weiteren Geschäfte zu beleben, nicht wahr?" Seine volltönende Stimme verhieß eine Lösung. "Lasst mich schauen, was ich für Euch habe." Er schlenderte, einen Arm um Pierres Schultern gelegt, die Wände entlang, bis er fand, was er suchte. "Ihr gestattet ..."

Eine imposante Erscheinung erschien nach dem Wechsel der Masken im Raum. Das Gesicht glich dem des Maskenmachers, wie zu jeder Zeit, wenn er seine Kreationen trug, nur war eine unleugbare Veränderung über ihn gekommen: Aufrecht wie eine Eiche im Sturm stand er da und wirkte ebenso unerschütterlich. Seine Augen sahen in Pierre hinein, wie ein Kapitän das weite Meer mustern mochte – vertrauensvoll und dennoch wachsam. Kurzum: Von ihm ging eine Aura aus, die Pierre schlagartig dazu brachte, all seine Habe auf diese eine Karte zu setzen.

"Ich werde mich an Euch hemmungslos bereichern", sagte der Kaufmann von Welt. Dabei klang es aus seinem Munde wie "Handle mit mir, und du wirst vermögend sein."

"Ich kaufe sie!", rief Pierre, das Herz von Begeisterung entflammt. Mit dieser Maske konnte ihm alles gelingen, was er sich vorgenommen hatte. Paris würde ihm zu Füßen liegen und die Bewunderung des Adels wäre ihm gewiss – und damit Julies ebenso. "Ich brauche zehn Stück davon."

Der Maskenmacher zog wieder die Ebenholzmaske über und Pierre konnte schwören, dass der Mann kein Kinn hatte. Zumindest war dort nichts – in diesem winzigen Fenster aus Zeit und Bewegung der Masken – wo sein Kinn hätte sein müssen. "Ich besitze lediglich diese eine. Bis die Sonne untergeht, werde ich eine neue fertigen. Eine Maske je Tag."

"Was soll sie kosten?"

"Alles, was Ihr bei Euch tragt. Für heute. Ab morgen bringt Ihr mir den fünften Teil Eures Gewinns."

Der junge Mann zögerte keinen Augenblick. Dieses Angebot schien mehr als gerecht.

 

Paris lag ihm nicht zu Füßen, Paris vergötterte Pierre. Aus zwei Wochen Arbeit waren drei geworden, denn jedermann, der etwas auf sich hielt, wünschte Verträge mit dem Kaufmann Renard zu schließen. Sein Erfolg sprach sich in der Stadt herum und schon bald grüßten ihn die Bürger, wenn er durch die Straßen schritt.

Nach Untergang der Sonne brachte Pierre eine stetig schwerer werdende Börse zum Geschäft auf der Île Saint-Louis und verließ es mit einer filigranen Maske in einer samtgefütterten Schachtel. An manchen Tagen begegnete ihm dabei ein Bettler. Anfangs gab er ihm noch einige Sous, doch jedes Mal schaute ihn der Maskenmacher strafend an: "Das ist zu wenig! Es fehlen Münzen!". Also wurden aus einigen Sous ein Sou und daraus wenige Deniers, bis der Maskenmacher endlich schwieg.

Am Ende aller Mühen stand das, wofür er so hart gearbeitet hatte: Sein Rendezvous mit Julie de Châteaudun. Vor diesem Abend hatte er einen zweiten Geldbeutel mitgenommen, denn er brauchte etwas ganz Besonderes. Julie würde sich kaum für ihn als Kaufmann interessieren. Sein Geschäft bot nur die Grundlage. Eine Frau wie sie hatte nichts Geringeres verdient als einen charmanten, verführerischen, großherzigen, achtungsvollen, geistreichen und liebevollen Mann. Jemand, der für sie jegliche Träume von Liebe übertrumpfte.

Als ihm einmal mehr der Bettler begegnete, zögerte Pierre Renard. Was, wenn genau diese eine Münze zu seinem Glück fehlte? Nein, diesmal hing zu viel davon ab. Morgen, am Ende ihres Stelldicheins, würde er um ihre Hand anhalten. "Heute nicht!", sagte er und scheuchte den Schmarotzer beiseite.

 

Die Maske des Verführers war jeden einzelnen Sou wert, den Pierre Renard dafür bezahlt hatte. Dieser Abend wurde der schönste seines Lebens. Er geleitete Julie durch den Park ihres Anwesens, umschmeichelte sie und brachte sie zum Lachen. Er flüsterte Gedichte voller Poesie und Liebe in ihre Ohren und entlockte ihr damit Laute des Staunens und der Bewunderung. Allein für ihr Lächeln hätte er alles gegeben. Hinzu kamen der Duft ihrer Haut, die herzenstiefen Blicke ihrer Augen und das betörende Gefühl ihrer zarten Hand in der seinen, als er ihr den Antrag machte. Und ein einziges, kleines "Ja" ließ in ihm ein derart unbändiges Glücksgefühl hochbranden, wie er es zuvor nie gekannt hatte.

 

Es hielt so lange an, bis am nächsten Tag Pierres Maske zerbrach.

 

Alle Farbe schien aus dem Geschäft des Maskenmachers gewichen zu sein und es war offenkundig, woran das lag: Es gab keine Masken mehr an den samtbehangen Wänden. Nur noch eine einzige Maske, in einem goldgerahmten Glaskasten, hing an der Rückseite des Raumes.

Als Pierres Blick auf den Maskenmacher hinter dem Verkaufstisch fiel, erschrak er sich zu Tode. Der Händler trug eine durch und durch abstoßende Maske: Der Mund fehlte ebenso wie Nase, Augen und Ohren. Sein Gesicht war eine breiige, unförmige Abscheulichkeit.

"Weshalb tragt Ihr etwas dermaßen Groteskes?", flüsterte Pierre. Ein eisiger Schauer lief über seinen Rücken.

Das Lachen des Maskenmachers klang abgrundtief verbittert. "Wer sagt, dass ich eine Maske trage?" Nun griff die Angst mit klammer Hand nach Pierres Herzen. "Was glaubt Ihr, warum ich derart viele Masken fertige?"

"Wo sind sie hin?", fragte Pierre panisch. "Ich brauche noch eine! Eine ganz besondere! Eine ... eine die ewig hält. Ich liebe Julie und will sie ein Leben lang glücklich machen! Und Ihr Vater, der Vicomte, muss unserer Heirat zustimmen! Habt Ihr so etwas?"

Der Händler deutete auf seine Schöpfung im Glaskasten. "Ihr begehrt die Meistermaske." Statt nach Verheißung klangen seine düsteren Worte wie Verdammnis. "Sie kann Euch alles sein lassen, was ihr darstellen wollt. Liebhaber oder Tyrann, Geschäftsmann oder Bettler. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um sie zu fertigen."

Pierres Augen waren auf die schönste und filigranste Maske fixiert, die er je gesehen hatte. Hauchdünn, wie aus Papier, glich die lebensecht bemalte Vollmaske einem lebendigen Gesicht mehr, als es ein Gemälde je vermögen würde. Hin und wieder huschte eine Gefühlsregung über ihre Oberfläche. "Was verlangt Ihr dafür?"

"Alles, was Ihr habt", kam die eiskalte Antwort. "Alles mit einer Ausnahme, die Ihr frei benennen dürft. Wählt weise."

Pierre kam eine blendende Idee. Er sammelte all seinen Mut und sagte: "Mir soll erhalten bleiben, was ich mir bisher erarbeitet habe."

Kaum hatte er es ausgesprochen, fürchtete er den Zorn des Maskenmachers und dass er die Maske nie erlangen würde, doch der nickte nur. "Das ist ein passender Preis. Sie ist Euer."

 

Viele Monate später erwachte der Mann, der sich Gemahl der Julie de Châteaudun nennen durfte, mitten in der Nacht und fand keinen Schlaf mehr. Seine Gattin lag in seinen Armen und dennoch spürte er ihre Nähe nicht. Sie schien die glücklichste Frau auf Erden zu sein und das sollte auch ihn mit Glück erfüllen, jedoch war dieser Segen schal geworden. Sie lachte über seine Scherze, die er fröhlich lächelnd, doch im Herzen traurig, erzählte. Er leistete ihr selbst dann Gesellschaft, wenn ihm der Sinn nach Alleinsein stand. Er sprach von Liebe, um ihr ein Lächeln zu entlocken, während in ihm Zweifel tobten. Sogar seine Tränen, die an die Oberfläche zu dringen suchten, blieben versiegelt hinter einer Maske des Frohsinns, um ihr keinerlei Sorgen zu bereiten.

Auch seine Geschäfte bereiteten ihm keine Freude mehr. Sobald man die Menschen erst einmal durchschaut hatte und wusste, was sie begehrten, war es ein Leichtes, ihnen alles zu nehmen. Ein Schmunzeln hier, eine Drohung dort oder Versprechen jenseits der Vernunft. Er fühlte sich selbst wie ein Maskenmacher, der seinen Kunden stets die Gesichter verkaufte, die sie sehen wollten.

Lautlos schlich er sich aus dem Bett und aus dem Anwesen und irrte bis zum Morgen durch die Straßen von Paris, bis er sich vor dem Haus seiner Eltern wiederfand. Wann hatte er seine Familie das letzte Mal besucht? Nicht, seit ... seit er die Meistermaske angelegt hatte. Viel zu sachte klopfte er an. In der Tür, die aufschwang, stand Pierres Vater höchstselbst und musterte ihn abschätzig.

"Was wünscht Ihr? Seid Ihr ein Kunde meines Sohnes? Er ist nicht hier." Mürrisch versuchte er, die Tür schließen, doch hielt Pierre ihn davon ab.

"Was redest du da, Vater? Ist das ein schlechter Scherz?"

Der alte Mann kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen. "Schert Euch fort, Fremder! Wirre haben in diesem Haus nichts zu suchen!" Damit knallte die Tür zu.

 

Es ist die Schuld des Maskenmachers! Dieser Gedanke trieb ihn mit pochenden Schritten durch die Gassen der Île Saint-Louis. Eine hingehaltene Almosenschale stieß er grob beiseite und stürmte in den Laden. Ihm gegenüber stand der Maskenmacher – der Pierres Gesicht trug.

Der packte sein Ebenbild am Kragen und zog ihn dicht an sich heran. "Du dreckiger Dieb! Was hast du mir angetan?!"

Der Maskenmacher erwiderte bedacht: "Du wünschtest, alles zu behalten, was du dir erarbeitet hast. Den Rest habe ich von dir als Preis gefordert. Deine Familie, deine Träume ..."

"... mein Antlitz!", schloss Pierre giftig und drückte ihn gegen die Wand.

Der Maskenmacher lachte trocken. "Was jammerst du? Ich habe nichts genommen, was du noch bräuchtest. Du bist nicht mehr Pierre Renard. Von dir ist einzig und allein übrig, was du zu sein scheinst."

Angeekelt trat Pierre vom Maskenmacher fort und riss sich die Meistermaske vom Haupt. "Ich will deine verfluchte Maske nicht länger! Gib mir mein Leben zurück!"

Der Maskenmacher schüttelte freudlos den Kopf. "Überleg’ es dir genau." Aus der Innentasche seiner Weste holte er einen faustgroßen Handspiegel hervor und hielt in Pierre hin. Was der sah, ließ ihn einen gellenden Schrei ausstoßen. Angewidert wandte er sich ab. Diese Fratze! Nur noch eine unförmige Masse ohne Augen, Mund und Ohren! Kraftlos sackte er zu Boden, als er begriff.

"Die Bettler ...", seufzte Pierre und begann zu schluchzen. "Ich habe ihnen früher immer etwas gegeben." Der Maskenmacher strich seinen Gehrock glatt und schlenderte frei von Hast um ihn herum. "Die Leute haben mich gemocht, weil ich ein solch bescheidener, lieber Junge war ..." Der Maskenmacher ging zur Tür seines Ladens und wartete geduldig auf den Satz der Erkenntnis. "Ich habe mich selbst verloren. Wann war ich das letzte Mal einfach nur ich?"

Der Maskenmacher wandte sich zu ihm um. "Du wirst Jahrzehnte brauchen, bis du die Menschen gut genug verstehst, um für sie Masken fertigen zu können. Nur wer die Natur – die Quelle – jeder Emotion kennt, ist ein wahrer Maskenmacher. Und es werden Jahrhunderte vergehen, bis du einen Narren findest, der dir die Meistermaske abkaufen wird. Erst sobald er bereit ist, sie wieder abzulegen, wirst du frei sein."

"Und was, wenn mir das nicht gelingt?", fragte Pierre tonlos.

Der Maskenmacher, der keiner mehr war, schüttelte nur sanftmütig den Kopf: "Die Menschen werden niemals ohne Masken leben wollen." Er drehte Pierre den Rücken zu und sagte im Hinausgehen, eher zu sich selbst gewandt: "Und niemand kann auf Dauer eine Maske tragen."





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