Die Geheimnisse des Vater Francesco

von Christopher Abendroth (www.abendwelten.de)

 

Die Dunkelheit tastete mit gierigen Fingern nach Ayda. Nur der schwache Schein ihres Lichtzaubers hielt die Finsternis davon ab, zuzupacken. Es blieb zu hoffen, dass Vater Francesco nicht tatsächlich irgendetwas in die Schatten gewoben hatte, um seine Geheimnisse vor Einbrechern wie ihr zu schützen. Heute würde sie ihm sein größtes entreißen. Kurz orientierte sie sich im Zwielicht und hielt auf eine Vitrine voller Artefakte an der Rückwand seines Arbeitszimmers zu.

Seit zwanzig Jahren galt der alte Mann im Duell als unbesiegt, obwohl es an aufstiegswilligen Klerikern nicht mangelte. Dafür krochen wispernde Gerüchte durch die Gänge der schwebenden Zitadelle. Francesco sei ein Weltenwandler – lächerlich. Potentielle Herausforderer verschwänden auf Nimmerwiedersehen – zutreffend, aber es fehlten Beweise. Verbotene Artefakte: wahrscheinlich. Ayda hoffte, eines von beidem zu finden. Das würde den Platz als Rechte Hand des Rates, an den sich der Vater klammerte, ganz ohne Duell frei machen.

Wachsamen Auges musterte sie den Glasschrank. Bei keinem der obskuren Sammelstücke darin konnte sie auch nur erahnen, was sie waren. Zudem erwiesen sich die Schutzrunen, die sie erspürte, als ungewöhnlich komplex. Ayda war sich sicher: Das Geheimnis, das Francesco so eifersüchtig hütete, verbarg er hier – gut sichtbar für jeden Besucher.

Ein schmales Lächeln trat auf ihre Lippen. Sie war nicht umsonst oberste Runenmeisterin des Ordens. Mit geübten Bewegungen streifte sie ihren Devalischen Resonanzring über und ließ den an einen silbernen Stift erinnernden Runenkalligraphen in ihre Hand gleiten. Während sie mit dem Ring die Bedeutung der Linien und Kurven der Rune erspürte, schrieb sie schon beinahe instinktiv einzelne Elemente mit dem Kalligraphen um.

Doch was war das? Ein Wort, einschiffriert in der Rune? »Ich«. Konzentriert fuhr sie fort. »Ich warne euch nur einmal, Ayda.« Kurz zitterte die Hand, die den Stift hielt. Francesco war ihr in der Runenkunde unterlegen. War das sein Versuch, sie abzuhalten? Entschlossen dekonstruierte sie die Rune weiter. Zu spät bemerkte sie den Faden aus Magie, der in die Tiefe des Glases führte. Eine Rune unter der Rune. Wie konnte er sie in Glas ...

Ein erbarmungsloser Strudel aus Energie sog sie in die Vitrine hinein.

 

Fingernägel, die auf Glas klackten, rissen Ayda aus einem tagelangen Dämmerzustand. Vater Francescos Gesicht schwebte gewaltig wie ein Schwarzschuppendrache und freundlich lächelnd in ihrem Sichtfeld. Persönlichkeitskerker! Eiskalt fuhr ihr diese Erkenntnis ins Bewusstsein. Die Artefakte in der Vitrine sind Persönlichkeitskerker.

»Den Mächten zum Gruße, Ayda«, sagte der Vater, milde den Kopf schüttelnd. »Ihr habt Euch derart angestrengt, ›Vater Francescos Geheimnis‹ zu lüften. Ich werde Eure Mühen belohnen. Das ist das Geheimnis, weshalb ich all die Jahre in Duellen obsiege: Ich habe meine wirklich gefährlichen Feinde stets im Blick.« Mit einem Zwinkern wandte er sich von Ayda ab und überließ sie der zeitlosen Dämmerung ihres Halbdaseins.





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